Edwin Gordons „Music Learning Theory” – eine Einführung

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von Prof. Dr. Almuth Süberkrüb

Einleitung

Edwin Gordon ist interessiert an der musikalischen Förderung aller Schüler unter Berücksichtigung ihrer jeweiligen musikalischen Leistungsfähigkeit. Er betont die Notwendigkeit, dass jeder Schüler durch einen optimalen Lernprozess die Möglichkeit erhalten sollte, sein musikalisches aptitude (das Potential eines Menschen, Musik zu lernen) auszuschöpfen. Dabei sollen spezielle Stärken gefördert und Schwächen ausgeglichen werden. Methoden und Materialien müssen an die Möglichkeiten und Notwendigkeiten angepaßt werden, um Schülern mit unterschiedlichem aptitude gerecht werden, und sie zu möglichst hohem achievement (zur Entwicklung und Entfaltung ihres Potentials) führen zu können. Hierfür hat Gordon seine Music Learning Theory entwickelt. Nach dieser findet der musikimmanente Lernprozess im Optimalfall in Stufen statt, wobei jede Stufe jeweils als Voraussetzung für die nächste dient. Der Kern des Musiklernens soll hierbei auditive Auseinandersetzung sein. Deshalb hören die Schüler zunächst verschiedenartige Musik sowie tonale und rhythmische Patterns, die sie durch „Audiation” verstehen lernen (zum Begriff Audiation s.u.). Erst im Anschluss an hörendes Verstehen findet eine Auseinandersetzung mit Notentext und musiktheoretischem Wissen statt. Das musikalische Erfahrungsspektrum soll in diesem Lernprozess möglichst vielschichtig sein, da durch musikalische Vielfalt die Entwicklung kognitiver Fähigkeiten gefördert wird. Das heißt, Lehrer sind gehalten, Schüler mit verschiedenen musikalischen Stilen und einer großen Vielfalt an Tonalitäten und Metren bekannt zu machen.

Gordon hat neue Begriffe geprägt und bestehende genauer definiert. Eine Kenntnis dieses speziellen Vokabulars ist Voraussetzung, um die Music Learning Theory verstehen zu können. Der zentrale Begriff in Gordons Music Learning Theory ist Audiation.

Audiation

Gordon prägte den Begriff Audiation in den 1970er Jahren, um zu eindeutiger und präziser Begrifflichkeit beizutragen. Er definiert es als „Hören und Verstehen von Musik, die nicht physikalisch erklingt (Audiation: hearing and understanding music without physical sound)”. Verstehen meint hierbei die Fähigkeit, (in) Musik zu denken und das gehörte Phänomen in einen musikalisch-syntaktischen Gesamtzusammenhang einordnen zu können. Der Begriff findet auch in Deutschland in Ermangelung eines deutschen Äquivalents, als „Audiation” Verwendung. Das zugehörige Verb audiieren1 (to audiate) wurde in Anlehnung an übliche Wortbildungsgesetze und nach Rücksprache mit der Dudengesellschaft abgeleitet. Audiieren ist zu unterscheiden von auditiv wahrnehmen, imitieren, sich einprägen beziehungsweise auswendig lernen und von innerem Hören. Der Hauptunterschied zwischen Audiation und diesen mentalen Prozessen liegt darin, dass Audiation auf jeden Fall „verstehen” einschließt, was bei den anderen Phänomenen nicht unbedingt der Fall sein muß. Einige dieser Phänomene sind Teil des Audiationsprozesses (imitieren, auditiv wahrnehmen), andere wirken jedoch sogar kontraproduktiv zum Audiationsprozess (z.B. memorieren).

Inhaltlich umfasst die Entwicklung der Audiationsfähigkeit in erster Linie die systematische Vermittlung tonaler, harmonischer und rhythmisch-metrischer Inhalte, darüber hinaus jedoch auch Bereiche wie Intonation, Artikulation, Atmung‚ Zusammenspiel etc.

Preparatory audiation

Gordon differenziert zwischen audiation und preparatory audiation (vorbereitende Audiation). Preparatory audiation ist eine Vorstufe von und eine Vorbereitung für Audiation. Vorbereitende Audiation wird durch informelle (zwanglose) Unterweisung vermittelt, Audiation hingegen durch formelle (förmliche) Anleitung unterrichtet (Gordon 1997, S. 89). Kinder lernen ihre Muttersprache auf informellem, unstrukturiertem Wege durch tägliche Kommunikation mit den Eltern beziehungsweise ihrer Umwelt. Auch in Bezug auf Musik fordert Gordon grundlegendes informelles (und zwangloses) Lernen durch vorbereitende Audiation. Da die wenigsten Eltern die Voraussetzungen mitbringen, ihr Kind in gleichem Maße im musikalischen wie im sprachlichen Bereich zu fördern, hält Gordon es für sinnvoll, Kindern (und ihren Eltern) strukturierte und unstrukturierte informelle musikalische Förderung anzubieten.2 Die Bedeutung derartiger Förderung sollte im Zusammenhang mit der Music Learning Theory nicht unterschätzt werden, da Gordon davon ausgeht, dass aptitude sich mit dem 9. Lebensjahr verfestigt. Bis dahin wird das angeborene Begabungspotential durch Umwelteinflüsse bei geeigneter Förderung positiv und bei ausbleibender Förderung negativ beeinflußt.

Lernsequenzen

Music Learning Theory befasst sich mit Lernprozessen: Wie lernen Schüler verschiedener Altersstufen? Wie sollte der Lernprozess beim Musiklernen im Idealfall stattfinden? Eine Antwort auf diese Fragen gibt das Grundprinzip „sound before sign” (d.h. die Auseinandersetzung mit Klang vor einer Auseinandersetzung mit Notation).

Gordon entwickelte ein zweiteiliges Modell, welches sich aus einem Lernmodell und einem Lehrmodell zusammensetzt. Im ersten Teil seines Buches Learning Sequences in Music – legt Gordon seine Theorie des Musiklernens dar. Im zweiten Teil – den practical applications – unterbreitet er Anwendungsvorschläge, welche sich auf verschiedene Unterrichtsinhalte beziehen und auf den Erkenntnissen der Lerntheorie aufbauend entwickelt wurden.

Einen Kernbereich seiner Music Learning Theory stellen die drei folgenden Lernsequenzen:

  1. die Fertigkeiten-Lernsequenz,
  2. die Lernsequenz der rhythmischen Inhalte und
  3. die Lernsequenz der tonalen Inhalte.

Fertigkeiten-Lernsequenz

(Skill Learning Sequence)

In der Fertigkeiten-Lernsequenz beschreibt Gordon die systematische Anleitung von Lernfertigkeiten. Er unterscheidet zwei grundsätzliche Lernprinzipien: Unterscheidungslernen (discrimination learning) und Inferenzlernen (inference learning). Die beiden Lernweisen sind im Hinblick auf das Verhältnis von Vermittlungsart und Inhalten verschiedenartig wirksam: Auf der Ebene des Unterscheidungslernens vermittelt der Lehrer sowohl den Weg des Lernens als auch die sachgemäßen Inhalte. Das Lernen durch Vor- und Nachmachen (learning by rote) steht im Mittelpunkt. Im Inferenzlernen vermittelt der Lehrer im Gegensatz dazu nur den Weg des Lernens; die Inhalte werden von den Schülern aus Erkenntnissen des Unterscheidungslernens selbstständig abgeleitet. Die vertrauten tonalen und rhythmischen Patterns des Unterscheidlungslernens bilden die Voraussetzung für selbstständiges Audiieren nicht vertrauter tonaler und rhythmischer Patterns.
Gordons Fertigkeiten-Lernsequenz ist durch einen stufenweise aufeinander aufbauenden Prozess gekennzeichnet, der vom Unterscheidungslernen zum Inferenzlernen führt. Von der Vorgehensweise des Vor- und Nachmachens werden Schüler dabei schrittweise zu eigenständigen musikalischen Denk- und Entscheidungsprozessen geführt. Sowohl im Unterscheidungs- als auch im Inferenzlernen differenziert Gordon hierarchisch angeordnete Ebenen, welche er abermals untergliedert. Innerhalb des strukturierten Gefüges sollten die Ebenen der Reihe nach erarbeitet werden. Hierbei bildet eine erfolgreich abgeschlossene Ebene den Nährboden für die nächst höhere, und es entsteht eine Interaktion zwischen den Ebenen.

Die beiden Lernprinzipien der Fertigkeiten-Lernsequenz und ihre Bezugnahme aufeinander

Die beiden Lernprinzipien Unterscheidungslernen und Inferenzlernen schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern bedingen und intensivieren sich wechselseitig, wobei je nach Lernstadium einer der beiden Bereiche dominiert. Wird im Unterscheidungslernen ein ‚musikalischer Grundsprachschatz’ an Patterns, Melodien und Harmoniegrundtonmelodien in einer Vielzahl an Tonalitäten und Metren aufgebaut, so entfalten und erweitern Schüler im Inferenzlernen ihr erworbenes Audiationsvermögen, wobei die vertrauten tonalen und rhythmischen Patterns als Voraussetzung für selbstständiges Erlernen und Audiieren neuer Patterns dienen. Eine Verflechtung von Inferenz- und Unterscheidungslernen wird durch ‚überbrückende Lernbewegungen’ (bridging movements) gewährleistet. Die stufenweise aufeinander aufbauende Lernsequenz soll schrittweise durchlaufen werden, gleichzeitig sind jedoch zeitweilige Sprünge von Stufen des Unterscheidungslernens hin zu Stufen des Inferenzlernens (und zurück!) sinnvoll. Hierdurch wird die Motivation der Schüler gefördert und gleichzeitig eine Stabilisierung der Kenntnisse der niedrigeren Stufe erreicht. Unter Verwendung dieser ‚überbrückenden Lernbewegungen’ kann selbstständig denkender, kreativer Umgang mit musikalischen Teilaspekten bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt innerhalb des Lernprozesses stattfinden.

In der Fertigkeiten-Lernsequenz erfolgt eine systematische Anleitung von Prinzipien des Lernens und Übens. Die beiden anderen zu Beginn genannten Lernsequenzen befassen sich mit günstigen inhaltlichen Lernabfolgen.

Unterscheidungslernen

Unterscheidungslernen findet in fünf aufeinander aufbauenden Stufen statt (Gordon 1980, S. 90):

UNTERSCHEIDUNGSLERNEN
hören/wiedergeben
Verbalverknüpfung
Teilynthese
Symbolverknüpfung
lesen – schreiben
Gesamtsynthese
lesen – schreiben

Hören/wiedergeben

Auf der Stufe ‚hören/wiedergeben’ werden die Grundlagen für alle Stufen des Unterscheidungs- wie auch des Inferenzlernens gelegt. Deshalb sollte auf dieser Stufe sehr sorgfältig gearbeitet werden, um nachteilige Auswirkungen auf alle nachfolgenden Stufen zu vermeiden.
Schüler entwickeln durch hören und audiieren von Patterns und längeren musikalischen Abschnitten (aural discrimination) ein Hörrepertoire. Durch Singen (oral discrimination) von Patterns entwickeln sie ein Aufführungsvokabular. Ziel der Stufe ‚hören/wiedergeben’ des Unterscheidungslernens und der Kern der Music Learning Theory ist die Erarbeitung eines großen Hör- und Aufführungsrepertoires, welches sich aus Liedern und rhythmischen Sprechgesängen3 sowie einer Vielzahl tonaler und rhythmischer Patterns zusammensetzt.

Verbalverknüpfung

Auf der Stufe ‚Verbalverknüpfung’ lernen Schüler, vertraute4 tonale Patterns mit Solmisationssilben (der relativen Solmisation) und vertraute rhythmische Patterns mit Rhythmussilben (die Rhythmussilben werden später erläutert) verbunden zu singen. Das Benennen erlaubt es Schülern, bekannte Patterns zu kategorisieren, sie voneinander zu unterscheiden und ihre innere Gesetzmäßigkeit zu verstehen. Dieser Prozess der Bewusstmachung ermöglicht es Schülern, nach den verstandenen ‚Gesetzmäßigkeiten’ auch eigene tonale und rhythmische Patterns abzuleiten und zu erproben. Nachdem Schüler die Silben gelernt und sich bewusst gemacht haben, erfolgt die Benutzung der Silben im weiteren Lernprozess eher unbewusst. Als Mittel der zwischenzeitlichen Klärung neuer Inhalte können sie sich die Silben im weiteren Lernprozess jedoch jederzeit ins Bewusstsein zurück rufen.
Schüler lernen auf der Stufe ‚Verbalverknüpfung’ außerdem Tonalitätennamen, Metrumsbezeichnungen (Zweiermetrum, Dreiermetrum), Funktionsbezeichnungen (Tonika, Dominante) und rhythmische Funktionsbezeichnungen (Macropulse, Micropulse, Unterteilung, Überbindung) für die auf der ersten Stufe bereits hörend kennengelernten und gesungenen Phänomene.
Music Learning Theory unterscheidet sich hinsichtlich der Verwendung von Solmisations- beziehungsweise Rhythmussilben von den meisten anderen Konzepten dadurch, dass Schüler zunächst ausschließlich den Klang unterschiedlicher Patterns kennen lernen und audiieren und erst auf der zweiten Stufe des Unterscheidungslernens Rhythmus- beziehungsweise Solmisationssilben mit diesen vertrauten Klängen verbinden. Die Solmisationssilben dienen hier nicht dem Erlernen eines noch unbekannten Klanges, sondern bewirken eine Festigung bereits verinnerlichter Klänge.

Teilsynthese

Auf der Stufe ‚Teilsynthese’ werden die Stufen ‚hören/wiedergeben’ und ‚Verbalverknüpfung’ kombiniert. Lernen funktioniert in der ‚Teilsynthese’ auf zwei Weisen: Erstens machen sich Schüler die innere Logik der tonalen und rhythmischen Silben in Patternserien bewusst.

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Zweitens lernen sie auf der Stufe ‚Teilsynthese’ vertraute Patterns gedanklich in eine Relation zueinander zu setzen, indem sie einzelne Patterns als Teil einer Patternserie audiieren. Gleich klingende Tonfolgen werden – abhängig davon, wie sie mit anderen Tongruppierungen innerhalb eines größeren Rahmens interagieren – unterschiedlich audiiert.

Auf der Stufe ‚Teilsynthese’ werden Schüler befähigt, die Tonalität oder das Metrum einer Serie vertrauter Patterns selbstständig zu bestimmen und dem Gehörten auf diese Weise syntaktische Bedeutung zu geben. Auf dieser Stufe des Unterscheidungslernens setzt bereits schlussfolgerndes Denken ein, da aus der Kombination vertrauter Patterns in vergleichender Weise weiterführende Wissensinhalte abgeleitet werden.

Symbolverknüpfung

Auf der Stufe ‚Symbolverknüpfung’ lernen Schüler, die Klänge und Silben der Patterns, welche sie auf den Stufen ‚hören/wiedergeben’ und ‚Verbalverknüpfung’ kennen gelernt haben, mit Notation zu verbinden. Sie audiieren und singen einzelne Patterns, die notenschriftlich festgehalten sind, indem sie ‚mit den Ohren sehen und mit den Augen hören’. In speziell ausgearbeiteten Schülerheften (vgl. z.B. Grunow/Gordon/Azzara 1997, S. 10-11) sind Patterns notiert, die den Schülern von den ersten Stufen des Unterscheidungslernens her vertraut sind. Durch Vorsingen der Patterns vermittelt der Lehrer den Schülern, welcher Klang beim Lesen der Patterns jeweils zu audiieren ist. Die Schüler lesen und audiieren die vertrauten notierten Patterns, verbinden sie mit entsprechenden Rhythmus- beziehungsweise Solmisationssilben und lernen auf diese Weise notationsbezogen zu audiieren.
Für diesen Audiationstyp, der sich nicht allein durch hörende, sondern darüber hinaus durch lesende und schreibende Beschäftigung auszeichnet, hat Gordon den Begriff „notationsbezogene Audiation” (notational audiation) geprägt. Besteht die Fähigkeit, sich beim Lesen eines Notentextes (ohne dass die notierte Musik erklingt) dessen Klang vorzustellen und ihm syntaktische Bedeutung zu geben und ihn auf diese Weise zu verstehen, so findet notationsbezogene Audiation statt: Die Notation ‚singt zu dem Lesenden’. Im Gegensatz hierzu spricht Gordon vom Dekodieren von Symbolen, wenn der Notentext zwar gelesen werden kann, dabei aber kein Audiationsprozess erfolgt.
Auf der Stufe ‚Symbolverknüpfung’ werden nur solche Fachbegriffe eingeführt, die für die Entwicklung notationsbezogener Audiation erforderlich sind. Schülern werden keine theoretischen Bedeutungen und Hintergründe vermittelt, ein Lernen dieser findet erst auf der letzten Stufe des schlussfolgernden Lernens – ‚theoretisches Verstehen’ – statt.

Gesamtsynthese

‚Teilsynthese’ und ‚Symbolverknüfung’ werden auf der Stufe ‚Gesamtsynthese’ kombiniert. Die ‚Teilsynthese’ befähigt Schüler, den syntaktischen Zusammenhang einer Serie vertrauter Patterns zu ermitteln sowie die innere Logik der Tongruppierungen und das Verhältnis der Patterns untereinander zu verstehen. Auf der Stufe ‚Symbolverknüpfung’ werden einzelne Patterns notationsbezogen audiiert. Die Stufe ‚Gesamtsynthese’ schafft schließlich eine Verknüpfung dieser Fähigkeiten und versetzt Schüler in die Lage, beim Lesen einer Serie vertrauter Patterns diese notationsbezogen zu audiieren und dem Gelesenen syntaktische Bedeutung zu geben und somit Notation fließend und verstehend zu lesen und zu schreiben.

Inferenzlernen

(Inference learning)

Die im Unterscheidungslernen erworbenen Fähigkeiten bilden das Fundament für Inferenzlernen. Ist Unterscheidungslernen durch enge Führung des Lernprozesses geprägt, so ist im Gegensatz dazu Inferenzlernen durch einen offenen, das selbstständige musikalische Denken der Schüler anregenden Unterrichtsprozess gekennzeichnet. Im Unterscheidungslernen haben Schüler vertraute Patterns in bekannter oder unbekannter Reihenfolge in bekannten Tonalitäten und Metren audiiert. Im Inferenzlernen werden Schüler indessen mit Kombinationen vertrauter und unvertrauter Patterns in bekannter und unbekannter Reihenfolge in bekannten oder unbekannten Tonalitäten und Metren konfrontiert.
Inferenzlernen ist in drei Ebenen unterteilt:

  • ‚Generalisieren’ (Generalization), 
  • ‚Erfinden/Improvisation’ (Creativity/Improvisation) und 
  • ‚Theoretisches Verstehen’ (Theoretical Understanding). 

In Analogie zum Unterscheidungslernen ist auch jede dieser drei Ebenen in Stufen untergliedert.

Generalisieren (Generalisation)

Auf der ersten Stufe ‚Generalisieren – hören/wiedergeben’ führt der Lehrer auf neutralen Silben singend in eine Tonalität oder ein Metrum ein. Nachdem er anschließend zwei verschiedene Patternabfolgen von vertrauten und nicht vertrauten tonalen beziehungsweise rhythmischen Patterns vorgetragen hat, entscheiden die Schüler, ob die Serien gleich oder unterschiedlich klangen. Um die Entscheidung zu erleichtern, dürfen Schüler die vom Lehrer gesungene Patternabfolge oder einzelne Abschnitte daraus wiederholen. An dieser Stelle sei der Unterschied zwischen Wiederholung und Imitationslernen hervorgehoben: Beim Imitationslernen singt der Lehrer ein Pattern so lange für den Schüler, bis dieser die Tongruppierung korrekt imitieren kann. Eine Wiederholung des Patterns hingegen singt der Schüler nach einmaligem Hören und sie dient ihm als Hilfestellung, sich bereits vertraute Inhalte wieder in Erinnerung zu rufen.
Ist der Schüler auf der Stufe ‚Generalisieren – hören/wiedergeben’ nicht in der Lage, die vom Lehrer gesungenen Patternfolgen oder Ausschnitte daraus zu wiederholen, so ist dies als ein Zeichen zu nehmen, im Lernprozess einen Schritt zurückzugehen und dem Schüler den Erwerb der fehlenden Kenntnisse durch Unterscheidungslernen zu ermöglichen.

Auf der Stufe ‚Generalisieren – Verbalverknüpfung’ gibt der Lehrer, auf neutraler Silbe singend, eine Tonalität oder ein Metrum vor und singt im Anschluss daran ein Pattern (später auch Sequenzen mehrerer Patterns) mit neutralen Silben. Die vom Lehrer auf neutraler Silbe vorgetragene Folge wird von den Schülern selbstständig mit Rhythmussilben beziehungsweise Solmisationssilben verbunden und nachgesungen. Außerdem sollen Schüler Tonalitäten und Metren von Patternfolgen benennen können, die der Lehrer auf neutralen Silben für die Schüler singt. Die Schüler audiieren Patternkombinationen und den entsprechenden musikalischen Kontext und entscheiden, welche Funktion und Bedeutung das gehörte Pattern im Gesamtzusammenhang für sie hat.

Auf der Stufe ‚Generalisieren – Symbolverknüpfung’ audiieren Schüler Kombinationen vertrauter oder nicht vertrauter Patterns notationsbezogen. Selbstständig ermitteln sie die Tonart beziehungsweise das Metrum einer unbekannten Patternsequenz, audiieren gelesene Tongruppierungen und Patternkombinationen und ordnen diese in den musikalischen Kontext ein. Hierbei dient Wissen, das auf der Stufe ‚Symbolverknüpfung’ im Unterscheidungslernen vermittelt wurde, als Grundlage für ableitendes Schlussfolgern.

Ziel der Ebene ‚Generalisieren’ ist die Entwicklung eigener musikalischer Entscheidungs- und Deutungsfähigkeit.

Erfinden/Improvisieren

Im Unterscheidungslernen erworbene Fähigkeiten entfalten sich auf der Ebene ‚Erfinden/Improvisieren’. Je vielfältiger seinerzeit die Musik in Bezug auf Stil, Ausdruck, tonale und rhythmische Inhalte und harmonische Fortschreitungen war, desto größer wird nun das Audiationsvokabular sein, dem Schüler angemessene Patterns für ihre Improvisation entnehmen können. Nach Gordons Auffassung kann Improvisation nur indirekt unterrichtet werden (Gordon 1980, S. 129). Das bedeutet, dass in einem offenen Unterrichtsprozess Anregungen gegeben werden, wie Schüler mit den Inhalten und den Vorgehensweisen aus dem Unterscheidungslernen umgehen können. Der Lehrer unterstützt den Schüler bei der selbstständigen Aneignung notwendiger Fertigkeiten, so dass dieser sich in der Kunst des Improvisierens faktisch selbst unterrichtet.

Auf der Stufe ‚Erfinden/Improvisieren – hören/wiedergeben’ führt der Lehrer – auf neutralen Silben singend – in eine bestimmte Tonalität beziehungsweise ein Metrum ein. Anschließend singt er auf neutralen Silben vertraute und nicht vertraute tonale und rhythmische Patterns. Schüler antworten auf neutralen Silben solistisch singend, mit variierten oder neuen Patterns. Der Lehrer singt beispielsweise ein Tonikapattern. Die Schüler antworten – je nach Absprache – mit einem Pattern der gleichen Funktion oder mit einem Pattern einer anderen Funktion (z.B. Subdominante oder Dominante). Die Absprachen können in Orientierung am Leistungsstand der Schüler variiert werden.

Auf der Stufe ‚Erfinden/Improvisieren – Symbolverknüpfung’ lernen Schüler, Akkordsymbole beziehungsweise einen Generalbass singend oder spielend in Klang umzusetzen (und schriftlich auszuführen), indem sie tonale Patterns improvisieren, die mit den Symbolen korrespondieren.

Theoretisches Verstehen (Theoretical Understanding)

Auf der letzten Stufe der Fertigkeiten-Lernsequenz wird das mittels Audiation entwickelte Verstehen auf intellektuellem Wege gefestigt und erklärt. Die zentrale Bedeutung theoretischen Verstehens liegt in der Frage, warum Musik in der gegebenen Weise wahrgenommen, empfunden, audiiert, aufgeführt, gelesen, geschrieben und improvisiert wird. Gordon nennt 23 Bereiche, die innerhalb des theoretischen Verstehens eine Rolle spielen sollten. Einige relevante Bereiche sind: Oberflächen- und Tiefenstrukturen in Musik und das Verhältnis beider zueinander, strukturelle Fundamente und Typen musikalischer Syntax, die Beschaffenheit von Kadenzen, musikalische Formen, Definitionen für Intervalle, Taktbezeichnungen, Tondauerbezeichnungen und Tonleitern (Gordon 1980, S.132).
Bevor Schüler sich mit theoretischem Wissen auseinander setzen, sollten sie alle Stufen des Unterscheidungs- und Inferenzlernens durchschritten haben.

Lernsequenzen tonaler und rhythmischer Inhalte

Die Systematisierung des Lernprozesses tonaler beziehungsweise rhythmischer Inhalte beschreibt Gordon in den Lernsequenzen rhythmischer und tonaler Inhalte. Die ‚Lernsequenz rhythmischer Inhalte’ (ein Überblick über die Lernsequenz findet sich bei Gordon 1980, S. 202) umfasst die Reihenfolge, in der Schülern unterschiedliche Metren sowie Rhythmen innerhalb dieser Metren zu vermitteln sind. In der ‚Lernsequenz tonaler Inhalte’ (ein Überblick über die Lernsequenz findet sich bei Gordon 1980, S. 160) schildert Gordon die Abfolge, in der verschiedene Tonalitäten sowie unterschiedliche harmonische Funktionen innerhalb dieser Tonalitäten unterrichtet werden sollen. Der Schwierigkeitsgrad tonaler Patterns reicht – abhängig vom musikalischen Kontext und je nach spezieller Funktion des Patterns – von leicht bis schwierig, von Tonika und Dominantfunktionen in Dur- und Molltonarten bis hin zu allen Funktionen in anderen Tonalitäten und hin zu Patterns in multitonalen Zusammenhängen. Gordon orientiert sich zur Festlegung der Schwierigkeitsreihenfolge an Audiationsschwierigkeitsgraden, welche er in jahrzehntelanger Forschung experimentell untersucht und systematisch zusammengestellt hat.
Die Lernsequenz rhythmischer Inhalte stellt die systematische Abfolge dar, in der diverse Metren – und verschiedene Rhythmen innerhalb dieser Metren – unterrichtet werden sollen. Im Hinblick auf rhythmisches Lernen betont Gordon, dass Bewegungskompetenz – und hierbei vor allem ein über Körperarbeit entwickeltes Verständnis für das Verhältnis von Raum und Zeit – eine wichtige Voraussetzung bildet, um ein stabiles Metrums- und Rhythmusgefühl entwickeln zu können. Da rhythmisches Verstehen nach Gordon ‚durch den Körper’ erfolgt, ist es für ein gründliches Verstehen seiner Lernsequenz der rhythmischen Inhalte unerlässlich, sich auf eine praktisch nachvollziehende Verstehensweise einzulassen.

Rhythmus besteht aus Macropulsen (macrobeats), Micropulsen (microbeats) und melodischem Rhythmus (melodic rhythm).

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Gordon 1980, S. 166

Um Gordons Definition von Macropulsen nachvollziehen zu können empfehle ich, sich zu einem Musikstück zu bewegen und auf diese Weise die Grundpulse der Musik – die metrischen Macropulse – zu ermitteln. Die nächst kleinere gleichmäßige Unterteilung dieser Macropulse nennt Gordon Micropulse. Zweiermetrum ist geprägt durch die Unterteilung eines Macropulses in zwei analoge Micropulse und Dreiermetrum dementsprechend durch Aufteilung in drei analoge Micropulse. Das Metrum eines Musikstückes wird demnach nicht durch die notierte Gruppierung (hier spricht man von Takt) bestimmt, sondern durch die gehörte Unterteilung von Macro- und Micropulsen. Um Rhythmen verstehen zu können, müssen die drei genannten Rhythmusebenen gleichzeitig audiiert werden.
Für die praktische Umsetzung seiner Lernsequenz rhythmischer Inhalte hat Gordon spezielle Rhythmussilben entwickelt, für die charakteristisch ist, dass sie auf Gewichtsimpulsen (beat functions) beruhen und nicht auf Tondauerbezeichnungen. Die Macropuls-Funktion erhält stets die Silbe ‚du’. Micropuls-Unterteilungen werden im Zweiermetrum auf ‚du-dej’, im Dreiermetrum auf ‚du-da-di’ gesungen. Weitere Unterteilungen werden mit ‚ta’ benannt.

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Rhythmussilben nach E. Gordon (Gordon 1980, S. 82/83)

In den Lernsequenz-Aktivitäten der Music Learning Theory werden die Lernsequenzen tonaler und rhythmischer Inhalte jeweils mit der Fertigkeiten-Lernsequenz zu einer Einheit verknüpft. Dabei sind vielfältige Kombinationen von schrittweise erfolgender und überbrückender Bewegung innerhalb der Fertigkeiten-Lernsequenz und in Interaktion mit den Lernsequenzen tonaler und rhythmischer Inhalte möglich.

Literatur

Englisch

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Deutsch

Gembris, HeinerDie Theorie musikalischer Begabung und Entwicklung von E. Gordon. In: Ders.: Grundlagen musikalischer Begabung und Entwicklung, Augsburg 1998, S. 267-272. Außerdem in diesem Buch: Die ‚Measures of Music Audiation’ – die Musikalitätstests von Edwin Gordon, 118-124.
Gordon, Edwin E.Wie Kinder Klänge als Musik wahrnehmen – eine Längsschnittuntersuchung zur musikalischen Begabung. In: Behne, Klaus-Ernst (Hrsg.): Musikalische Sozialisation, Musikpädagogische Forschung Bd. 2, Laaber 1981
ders.Musikalische Begabung: Beschaffenheit, Beschreibung, Messung und Bewertung. In: Sigrid Abel-Struth (Hrsg.) Musikpädagogik, Forschung und Lehre Bd. 25, Mainz 1986. (Im Englischen: The Nature, Description, Measurement, and Evaluation of Music Aptitudes. GIA-Publications, Chicago 1986.)
Gruhn, WilfriedDer Musikverstand. Neurobiologische Grundlagen des musikalischen Denkens, Hörens und Lernens. Olms Verlag, Hildesheim 1998.
ders.Was ist „Audiation”? – Zur Rettung eines wissenschaftlichen Begriffs. In: Diskussion Musikpädagogik, wissenschaftliche Vierteljahresschrift für Musikpädagogik 21/2004, S. 51-52.
Kormann, AdamIn Zusammenarbeit mit Roland Hafen und Almuth Süberkrüb: Diagnose und Prognose der musikalischen Begabung. In: mip Journal (Basisartikel), Heft 9/2004. S. 6-13 und www.miponline. com.
Martens, HolgerIn Zusammenarbeit mit Almuth Süberkrüb: Bericht von einem Versuch, Edwin E. Gordons „Music Learning Theory” im Musikunterricht zu erproben. In: Diskussion Musikpädagogik, wissenschaftliche Vierteljahresschrift für Musikpädagogik, Heft 4/1999, S. 56-59.
Seeliger, MariaDas frühe Musiklernen bei Edwin E. Gordon. In: Dies: Das Musikschiff. Kinder und Eltern erleben Musik. Von der pränatalen Zeit bis ins vierte Lebensjahr, Bosse Verlag, Regensburg 2003, S. 96-123.
Süberkrüb, AlmuthMusik denken – Edwin Gordons Theorie zum Musik denken und Musik lernen. In: Üben & Musizieren, Heft 4/2000 S. 15-24
dies.Edwin Gordon, in: MGG (neu) Personenteil Bd.7, Bärenreiter Verlag, Kassel 2002.
dies.Denken in Musik: Audiation. In: mip Journal (Basisartikel) 7/2003, S. 6-13.
dies.Musiklernen: Verstehen und Geschehen. Didaktische Interpretation von Musik und Music Learning Theory als Grundlage für vieldimensionales Musiklernen, Pfau Verlag, Saarbrücken 2005
dies.Audiation. In: Helms, S./Schneider, R./Weber, R. (Hrsg.): Lexikon der Musikpädagogik, Bosse Verlag, Regensburg 2005.
dies.Üben in der musikalischen Lerntheorie von Edwin Gordon. In: Mahlert, Ulrich: Handbuch „Üben“, Breitkopf & Härtel, Wiesbaden 2006.
dies.Patternspiele 1, private Veröffentlichung, Oberbiel 2007.
Tappert-Süberkrüb, Almuth„Music Learning Theory” Edwin Gordons Theorie des Musiklernens. In: Diskussion Musikpädagogik, wissenschaftliche Vierteljahresschrift für Musikpädagogik 2/1999, S. 75-98.