(Inference learning)
Die im Unterscheidungslernen erworbenen Fähigkeiten bilden das Fundament für Inferenzlernen. Ist Unterscheidungslernen durch enge Führung des Lernprozesses geprägt, so ist im Gegensatz dazu Inferenzlernen durch einen offenen, das selbstständige musikalische Denken der Schüler anregenden Unterrichtsprozess gekennzeichnet. Im Unterscheidungslernen haben Schüler vertraute Patterns in bekannter oder unbekannter Reihenfolge in bekannten Tonalitäten und Metren audiiert. Im Inferenzlernen werden Schüler indessen mit Kombinationen vertrauter und unvertrauter Patterns in bekannter und unbekannter Reihenfolge in bekannten oder unbekannten Tonalitäten und Metren konfrontiert.
Inferenzlernen ist in drei Ebenen unterteilt:
- ‚Generalisieren’ (Generalization),
- ‚Erfinden/Improvisation’ (Creativity/Improvisation) und
- ‚Theoretisches Verstehen’ (Theoretical Understanding).
In Analogie zum Unterscheidungslernen ist auch jede dieser drei Ebenen in Stufen untergliedert.
Generalisieren (Generalisation)
Auf der ersten Stufe ‚Generalisieren – hören/wiedergeben’ führt der Lehrer auf neutralen Silben singend in eine Tonalität oder ein Metrum ein. Nachdem er anschließend zwei verschiedene Patternabfolgen von vertrauten und nicht vertrauten tonalen beziehungsweise rhythmischen Patterns vorgetragen hat, entscheiden die Schüler, ob die Serien gleich oder unterschiedlich klangen. Um die Entscheidung zu erleichtern, dürfen Schüler die vom Lehrer gesungene Patternabfolge oder einzelne Abschnitte daraus wiederholen. An dieser Stelle sei der Unterschied zwischen Wiederholung und Imitationslernen hervorgehoben: Beim Imitationslernen singt der Lehrer ein Pattern so lange für den Schüler, bis dieser die Tongruppierung korrekt imitieren kann. Eine Wiederholung des Patterns hingegen singt der Schüler nach einmaligem Hören und sie dient ihm als Hilfestellung, sich bereits vertraute Inhalte wieder in Erinnerung zu rufen.
Ist der Schüler auf der Stufe ‚Generalisieren – hören/wiedergeben’ nicht in der Lage, die vom Lehrer gesungenen Patternfolgen oder Ausschnitte daraus zu wiederholen, so ist dies als ein Zeichen zu nehmen, im Lernprozess einen Schritt zurückzugehen und dem Schüler den Erwerb der fehlenden Kenntnisse durch Unterscheidungslernen zu ermöglichen.
Auf der Stufe ‚Generalisieren – Verbalverknüpfung’ gibt der Lehrer, auf neutraler Silbe singend, eine Tonalität oder ein Metrum vor und singt im Anschluss daran ein Pattern (später auch Sequenzen mehrerer Patterns) mit neutralen Silben. Die vom Lehrer auf neutraler Silbe vorgetragene Folge wird von den Schülern selbstständig mit Rhythmussilben beziehungsweise Solmisationssilben verbunden und nachgesungen. Außerdem sollen Schüler Tonalitäten und Metren von Patternfolgen benennen können, die der Lehrer auf neutralen Silben für die Schüler singt. Die Schüler audiieren Patternkombinationen und den entsprechenden musikalischen Kontext und entscheiden, welche Funktion und Bedeutung das gehörte Pattern im Gesamtzusammenhang für sie hat.
Auf der Stufe ‚Generalisieren – Symbolverknüpfung’ audiieren Schüler Kombinationen vertrauter oder nicht vertrauter Patterns notationsbezogen. Selbstständig ermitteln sie die Tonart beziehungsweise das Metrum einer unbekannten Patternsequenz, audiieren gelesene Tongruppierungen und Patternkombinationen und ordnen diese in den musikalischen Kontext ein. Hierbei dient Wissen, das auf der Stufe ‚Symbolverknüpfung’ im Unterscheidungslernen vermittelt wurde, als Grundlage für ableitendes Schlussfolgern.
Ziel der Ebene ‚Generalisieren’ ist die Entwicklung eigener musikalischer Entscheidungs- und Deutungsfähigkeit.
Erfinden/Improvisieren
Im Unterscheidungslernen erworbene Fähigkeiten entfalten sich auf der Ebene ‚Erfinden/Improvisieren’. Je vielfältiger seinerzeit die Musik in Bezug auf Stil, Ausdruck, tonale und rhythmische Inhalte und harmonische Fortschreitungen war, desto größer wird nun das Audiationsvokabular sein, dem Schüler angemessene Patterns für ihre Improvisation entnehmen können. Nach Gordons Auffassung kann Improvisation nur indirekt unterrichtet werden (Gordon 1980, S. 129). Das bedeutet, dass in einem offenen Unterrichtsprozess Anregungen gegeben werden, wie Schüler mit den Inhalten und den Vorgehensweisen aus dem Unterscheidungslernen umgehen können. Der Lehrer unterstützt den Schüler bei der selbstständigen Aneignung notwendiger Fertigkeiten, so dass dieser sich in der Kunst des Improvisierens faktisch selbst unterrichtet.
Auf der Stufe ‚Erfinden/Improvisieren – hören/wiedergeben’ führt der Lehrer – auf neutralen Silben singend – in eine bestimmte Tonalität beziehungsweise ein Metrum ein. Anschließend singt er auf neutralen Silben vertraute und nicht vertraute tonale und rhythmische Patterns. Schüler antworten auf neutralen Silben solistisch singend, mit variierten oder neuen Patterns. Der Lehrer singt beispielsweise ein Tonikapattern. Die Schüler antworten – je nach Absprache – mit einem Pattern der gleichen Funktion oder mit einem Pattern einer anderen Funktion (z.B. Subdominante oder Dominante). Die Absprachen können in Orientierung am Leistungsstand der Schüler variiert werden.
Auf der Stufe ‚Erfinden/Improvisieren – Symbolverknüpfung’ lernen Schüler, Akkordsymbole beziehungsweise einen Generalbass singend oder spielend in Klang umzusetzen (und schriftlich auszuführen), indem sie tonale Patterns improvisieren, die mit den Symbolen korrespondieren.
Theoretisches Verstehen (Theoretical Understanding)
Auf der letzten Stufe der Fertigkeiten-Lernsequenz wird das mittels Audiation entwickelte Verstehen auf intellektuellem Wege gefestigt und erklärt. Die zentrale Bedeutung theoretischen Verstehens liegt in der Frage, warum Musik in der gegebenen Weise wahrgenommen, empfunden, audiiert, aufgeführt, gelesen, geschrieben und improvisiert wird. Gordon nennt 23 Bereiche, die innerhalb des theoretischen Verstehens eine Rolle spielen sollten. Einige relevante Bereiche sind: Oberflächen- und Tiefenstrukturen in Musik und das Verhältnis beider zueinander, strukturelle Fundamente und Typen musikalischer Syntax, die Beschaffenheit von Kadenzen, musikalische Formen, Definitionen für Intervalle, Taktbezeichnungen, Tondauerbezeichnungen und Tonleitern (Gordon 1980, S.132).
Bevor Schüler sich mit theoretischem Wissen auseinander setzen, sollten sie alle Stufen des Unterscheidungs- und Inferenzlernens durchschritten haben.