Unterscheidungslernen findet in fünf aufeinander aufbauenden Stufen statt (Gordon 1980, S. 90):

UNTERSCHEIDUNGSLERNEN
hören/wiedergeben
Verbalverknüpfung
Teilynthese
Symbolverknüpfung
lesen – schreiben
Gesamtsynthese
lesen – schreiben

Hören/wiedergeben

Auf der Stufe ‚hören/wiedergeben’ werden die Grundlagen für alle Stufen des Unterscheidungs- wie auch des Inferenzlernens gelegt. Deshalb sollte auf dieser Stufe sehr sorgfältig gearbeitet werden, um nachteilige Auswirkungen auf alle nachfolgenden Stufen zu vermeiden.
Schüler entwickeln durch hören und audiieren von Patterns und längeren musikalischen Abschnitten (aural discrimination) ein Hörrepertoire. Durch Singen (oral discrimination) von Patterns entwickeln sie ein Aufführungsvokabular. Ziel der Stufe ‚hören/wiedergeben’ des Unterscheidungslernens und der Kern der Music Learning Theory ist die Erarbeitung eines großen Hör- und Aufführungsrepertoires, welches sich aus Liedern und rhythmischen Sprechgesängen3 sowie einer Vielzahl tonaler und rhythmischer Patterns zusammensetzt.

Verbalverknüpfung

Auf der Stufe ‚Verbalverknüpfung’ lernen Schüler, vertraute4 tonale Patterns mit Solmisationssilben (der relativen Solmisation) und vertraute rhythmische Patterns mit Rhythmussilben (die Rhythmussilben werden später erläutert) verbunden zu singen. Das Benennen erlaubt es Schülern, bekannte Patterns zu kategorisieren, sie voneinander zu unterscheiden und ihre innere Gesetzmäßigkeit zu verstehen. Dieser Prozess der Bewusstmachung ermöglicht es Schülern, nach den verstandenen ‚Gesetzmäßigkeiten’ auch eigene tonale und rhythmische Patterns abzuleiten und zu erproben. Nachdem Schüler die Silben gelernt und sich bewusst gemacht haben, erfolgt die Benutzung der Silben im weiteren Lernprozess eher unbewusst. Als Mittel der zwischenzeitlichen Klärung neuer Inhalte können sie sich die Silben im weiteren Lernprozess jedoch jederzeit ins Bewusstsein zurück rufen.
Schüler lernen auf der Stufe ‚Verbalverknüpfung’ außerdem Tonalitätennamen, Metrumsbezeichnungen (Zweiermetrum, Dreiermetrum), Funktionsbezeichnungen (Tonika, Dominante) und rhythmische Funktionsbezeichnungen (Macropulse, Micropulse, Unterteilung, Überbindung) für die auf der ersten Stufe bereits hörend kennengelernten und gesungenen Phänomene.
Music Learning Theory unterscheidet sich hinsichtlich der Verwendung von Solmisations- beziehungsweise Rhythmussilben von den meisten anderen Konzepten dadurch, dass Schüler zunächst ausschließlich den Klang unterschiedlicher Patterns kennen lernen und audiieren und erst auf der zweiten Stufe des Unterscheidungslernens Rhythmus- beziehungsweise Solmisationssilben mit diesen vertrauten Klängen verbinden. Die Solmisationssilben dienen hier nicht dem Erlernen eines noch unbekannten Klanges, sondern bewirken eine Festigung bereits verinnerlichter Klänge.

Teilsynthese

Auf der Stufe ‚Teilsynthese’ werden die Stufen ‚hören/wiedergeben’ und ‚Verbalverknüpfung’ kombiniert. Lernen funktioniert in der ‚Teilsynthese’ auf zwei Weisen: Erstens machen sich Schüler die innere Logik der tonalen und rhythmischen Silben in Patternserien bewusst.

somiso

Zweitens lernen sie auf der Stufe ‚Teilsynthese’ vertraute Patterns gedanklich in eine Relation zueinander zu setzen, indem sie einzelne Patterns als Teil einer Patternserie audiieren. Gleich klingende Tonfolgen werden – abhängig davon, wie sie mit anderen Tongruppierungen innerhalb eines größeren Rahmens interagieren – unterschiedlich audiiert.

Auf der Stufe ‚Teilsynthese’ werden Schüler befähigt, die Tonalität oder das Metrum einer Serie vertrauter Patterns selbstständig zu bestimmen und dem Gehörten auf diese Weise syntaktische Bedeutung zu geben. Auf dieser Stufe des Unterscheidungslernens setzt bereits schlussfolgerndes Denken ein, da aus der Kombination vertrauter Patterns in vergleichender Weise weiterführende Wissensinhalte abgeleitet werden.

Symbolverknüpfung

Auf der Stufe ‚Symbolverknüpfung’ lernen Schüler, die Klänge und Silben der Patterns, welche sie auf den Stufen ‚hören/wiedergeben’ und ‚Verbalverknüpfung’ kennen gelernt haben, mit Notation zu verbinden. Sie audiieren und singen einzelne Patterns, die notenschriftlich festgehalten sind, indem sie ‚mit den Ohren sehen und mit den Augen hören’. In speziell ausgearbeiteten Schülerheften (vgl. z.B. Grunow/Gordon/Azzara 1997, S. 10-11) sind Patterns notiert, die den Schülern von den ersten Stufen des Unterscheidungslernens her vertraut sind. Durch Vorsingen der Patterns vermittelt der Lehrer den Schülern, welcher Klang beim Lesen der Patterns jeweils zu audiieren ist. Die Schüler lesen und audiieren die vertrauten notierten Patterns, verbinden sie mit entsprechenden Rhythmus- beziehungsweise Solmisationssilben und lernen auf diese Weise notationsbezogen zu audiieren.
Für diesen Audiationstyp, der sich nicht allein durch hörende, sondern darüber hinaus durch lesende und schreibende Beschäftigung auszeichnet, hat Gordon den Begriff „notationsbezogene Audiation” (notational audiation) geprägt. Besteht die Fähigkeit, sich beim Lesen eines Notentextes (ohne dass die notierte Musik erklingt) dessen Klang vorzustellen und ihm syntaktische Bedeutung zu geben und ihn auf diese Weise zu verstehen, so findet notationsbezogene Audiation statt: Die Notation ‚singt zu dem Lesenden’. Im Gegensatz hierzu spricht Gordon vom Dekodieren von Symbolen, wenn der Notentext zwar gelesen werden kann, dabei aber kein Audiationsprozess erfolgt.
Auf der Stufe ‚Symbolverknüpfung’ werden nur solche Fachbegriffe eingeführt, die für die Entwicklung notationsbezogener Audiation erforderlich sind. Schülern werden keine theoretischen Bedeutungen und Hintergründe vermittelt, ein Lernen dieser findet erst auf der letzten Stufe des schlussfolgernden Lernens – ‚theoretisches Verstehen’ – statt.

Gesamtsynthese

‚Teilsynthese’ und ‚Symbolverknüfung’ werden auf der Stufe ‚Gesamtsynthese’ kombiniert. Die ‚Teilsynthese’ befähigt Schüler, den syntaktischen Zusammenhang einer Serie vertrauter Patterns zu ermitteln sowie die innere Logik der Tongruppierungen und das Verhältnis der Patterns untereinander zu verstehen. Auf der Stufe ‚Symbolverknüpfung’ werden einzelne Patterns notationsbezogen audiiert. Die Stufe ‚Gesamtsynthese’ schafft schließlich eine Verknüpfung dieser Fähigkeiten und versetzt Schüler in die Lage, beim Lesen einer Serie vertrauter Patterns diese notationsbezogen zu audiieren und dem Gelesenen syntaktische Bedeutung zu geben und somit Notation fließend und verstehend zu lesen und zu schreiben.